02. August

Ausnahmsweise werden wir heute vom sonst so ruhigen Martin geweckt. Im Morgengrauen beginnt eine für ihn harte Zeit. Auch er wird nun von starkem Durchfall gepeinigt und muss sich dann sogar noch übergeben. Es ist klar, dass wir unsere Abfahrt erst einmal verschieben müssen. Aber nach zwei weiteren Stunden Schlaf fühlt er sich fit genug, um zu starten. Doch bereits nach wenigen km beschließt er, die nächsten 130 km bis Nyalam mit einem motorisierten Gefährt voraus zu fahren, um sich dort auszukurieren, bis Fernando und ich dann eintreffen werden. Er ist sicher, keine Hilfe von uns in Anspruch nehmen zu müssen. Also warten wir mit Martin, doch es ist wie verhext: In der folgenden Stunde fährt kein einziges Fahrzeug in unsere Richtung, aber mehr als ein halbes Dutzend in die andere. So stoppen wir das nächste »zurück« nach Tingri. Von diesem Touristenstopp müsste Martin normalerweise eine Mitfahrgelegenheit in Richtung nepalesische Grenze finden. Der von uns gestoppte Kleinbus mit einer Reisegruppe aus Italien hält. Martins Rad kann verstaut werden. Fernando nutzt die Gelegenheit und fragt die Italiener nach dem Stand der »Tour de France«. Sie strahlen über das ganze Gesicht, verkünden, dass »ihr« Marco in den Bergen famos gefahren wäre und nun klar in Führung liegen würde. Von Jan Ullrich wissen sie nichts Genaues. Einer meint, dass er Dritter wäre, ein Anderer glaubt zu wissen, dass er ausgeschieden wäre. Mit Fernando bin ich nun allein auf den nächsten 130 km dieser Schotterpiste, die nun durch eine nur gering ansteigende (fast flache) Landschaft mit nur wenigen Bauernhöfen führt – das Reich der Schafhirten und Nomaden. Die Straßenverhältnisse bleiben gleich besch…: Immer wieder diese Bodenwellen, die dich durchschütteln, mal staubiger, dann wieder schlammiger »Straßenbelag« und natürlich bleiben auch weiterhin (gerade nun in der Regenzeit) Bäche zu durchqueren. Es ist ein lahmes, aber immerhin stetiges Vorwärtsdringen. Bei unserer Mittagspause erleben wir das schon so oft gesehene Bild ein weiteres Mal: Die »alte« Frau (Mutter) des Restaurants ist immer gnädig und auch lächelnd zu uns, die »junge« (Tochter) verhält sich sehr hart und verlangt extreme Touristenpreise. Meist setzen sich die Töchter gegen ihre Mütter durch. Währendessen spielen die Männer im Hintergrund irgendein Glücksspiel. Unter ihnen ist auch in »besserer, junger Schnösel«. Er will uns alles abkaufen. Ist es seine Absicht, uns damit zu zeigen, wie »reich« er ist? Für uns ist er nur abstoßend. Die Abendpause ist wesentlich angenehmer: Entspannt und gemütlich können wir bei einer Familie essen. Sie schauen uns zwar auch interessiert zu, aber sie sind nicht aufdringlich und lächeln uns nur an. Kaum haben wir unsere Pause beendet, überholt uns ein Landcruiser und stoppt dann direkt vor uns. Komisch, sie wollen gar kein Foto von uns »Rittern der Landstraße«. Aha, hier ist Martin dabei. Ihm geht es schon wieder besser und er hat in Tingri recht schnell einen Landrover gefunden, der nicht nur ihn, sondern auch sein Rad bis Nyalam mittransportieren konnte. Wir verabreden uns für morgen Abend oder übermorgen in der Früh in Nyalam. Der Regen wird nun immer häufiger. Wir kommen in die Gegend, in der der Monsun stärker verbreitet ist. Aber wir fahren nun meist weiter, was bleibt uns in der Regenzeit auch anderes übrig – auch wenn es dabei ganz schön kalt werden kann? Aber am Abend kommt es ganz heftig: Von allen Seiten ziehen gleichzeitig Furcht erregend ausschauende Gewitter auf. Vor uns türmt sich der »Lalung La«, der letzte Pass, auf. Nein, bei dem Wetter kommen wir da nicht mehr drüber. Stattdessen gilt es nun, so schnell als möglich einen Schlafplatz zu finden, aber WO in dieser einsamen Gegend? Fernando erblickt knapp 2 km abseits der Straße ein paar Nomadenzelte und ist überzeugt, dass diese ganzjährig in der freien Natur lebenden Menschen am Besten wissen müssten, wo ihre Zelte vor den Blitzen am sichersten sind. Na und außerdem kann es eine interessante Erfahrung werden, bei ihnen zu übernachten. Als wir ankommen, sind sie alle gleich sehr freundlich und helfen uns, direkt neben ihren fest installierten Zelten unser Zelt aufzuschlagen. Diese Hilfe benötigen wir auch dringend, denn in der Zwischenzeit stürmt es stark. Aber mit ihrer fachmännischen Hilfe schaffen wir es, unser Zelt standhaft zu machen. Anschließend werden wir in ihr Hauptzelt gebeten. Hier ist auch ein Truckfahrer, der scheinbar öfters hier verkehrt und den Erwachsenen Zigaretten sowie den Kindern äpfel als Geschenke mitgebracht hat. Da er auch ein bisschen Englisch kann, kurbelt er die Unterhaltung über Tibet, Buddhismus, China und Europa an. Im Zelt herrscht eine faszinierende Atmosphäre: Beherrschend ist der riesige Kochtopf in der Mitte, dessen Inhalt (ein Schaf) von den hoch lodernden Flammen erhitzt wird; drumherum sitzen der »Nomadenchef« und seine Anvertraute, ein weiteres Paar, der Truckdriver sowie Fernando und ich. Da es inzwischen stockdunkel ist, sind wir nur durch das Feuer wenigstens schemenhaft zu erkennen. Das Zelt ist rauchgeschwängert, denn der Rauch zieht nur langsam über das Loch in der Zeltmitte ab. Leider bekomme ich wieder Magenkrämpfe, so dass ich kurz vor dem Essen gehen muss, um mich schlafen zu legen.