Martin und ich wachen – noch an die über zwei Stunden voraus gehende Bejing- Zeit gewöhnt – früh auf. So unterhalten wir uns noch lange, was zu einer Art Resümee für unsere Zeit in Tibet wird. Der »Mythos Tibet«, der ja auch weiterhin in diversen »Hollywood-Schinken« gepflegt wird, hat wenig mit der Realität zu tun. Und vieles wird einem als »westlicher Mensch« sehr gewöhnungsbedürftig sein. Aber um Tibet heute verstehen zu können, muss man wissen, was sich in Tibet gestern abgespielt hat. Immer wieder haben andere Länder versucht, Tibet zu vereinnahmen, v. a. China. Dieses hat das seit einem knappen halben Jahrhundert ja auch wieder »geschafft«. Und durch die später folgende »Kulturrevolution« wurde den Tibetern ihre gesamte Kultur und ihre Religion genommen, was natürlich gerade für ein Volk wie dieses mit einem kompletten Identitätsverlust gleichzusetzen ist. Und was gibt es Schlimmeres für einen Menschen, als seine Seele, seine Identität zu verlieren? Und um ja keine neue Identität aufkommen zulassen, werden die Tibeter in ihrem eigenen Land zur Minderheit gemacht, indem allen Chinesen ein Sonderlohn von der Regierung gezahlt wird, wenn sie dafür nach Tibet gehen, was natürlich mache Chinesen gen Westenziehen lässt. Und diese Chinesen sind dann auch materiell IMMER besser gestellt als die Tibeter. Die Chinesen sind in jedem Dorf die »Chefs«. So will ich all meine subjektiv geschilderten Schwierigkeiten mit den Tibetern (v. a. mit den aggressiven Kindern!), die teilweise sicherlich auch durch meine Krankheit und meiner daraus immer wieder resultierenden »schlechten Laune« hervorgerufen wurden, immer auch unter diesem Blickwinkel verstanden wissen. ICH WüNSCHE EUCH TIBETERN, DASS IHR DIESE SCHWERE ZEIT üBERSTEHT UND EINES (HOFFENTLICH NICHT FERNEN) TAGES WIEDER SO LEBEN KöNNT, WIE IHR WOLLT! Und was ist zu den Chinesen zu sagen? Ihre »Nur Geld zählt«-Mentalität scheint uns auch ein Resultat der Politik Mao-Tse-Tungs – zu sein, so paradox dies vielleicht im ersten Moment auch klingen mag. Er nahm natürlich auch allen Chinesen mit seiner »Kulturrevolution« ihre so vielfältigen und tiefgehenden Kulturen, Traditionen und Religionen. Was blieb den Chinesen noch??? Nur noch die »neue Religion«, der nun so wichtige Mammon. Dann geht es zum Frühstück: Wir scheinen bereits im »Paradies« zu sein – es gibt Toast mit Marmelade und (richtigen) Tee, nicht nur leicht gefärbtes (grausam schmeckendes) heißes Wasser. Aber damit nicht genug! Hier kann man ALLE in Europa bekannten Süßigkeiten kaufen. Zuerst mal ein großes »Snickers«. Das Beste in meinem Leben! Nach all den entbehrlichen Wochen in Tibet ist das für uns pures Glück, wir können es kaum fassen. Fernando schläft mal wieder lange. Wir wecken ihn, denn es wird höchste Zeit, wenn wir Kathmandu heute noch erreichen wollen! Zunächst müssen wir uns in der hiesigen »Immigration Office« noch die Visa besorgen. Die Beamten schauen sich mein erstes Nepal-Visum mit dem erst nachträglich hinzugefügten Einreisestempel äußerst kritisch an, bevor sie »Gnade vor Recht« walten lassen. Puh, diese Hürde wäre auch noch genommen! Heute treibe ich alle an, denn ich habe nur noch Kathmandu im Kopf. Endlich meinen Eltern eine Nachricht schreiben und dass es mir einigermaßen gut geht. So radle ich auch als Erster los, da ich wohl auf den nächsten 30 »Schotterkilometer« der Langsamste sein werde. Ich muss mich nur umdrehen, dann kann ich noch Tibet – zum Greifen nahe – sehen. Aber welch andere Welt herrscht da? Hier gibt es (fast) alles, »drüben« (fast) nichts. Hier sind die Menschen fröhlich und grüßen einen meistfreundlich, drüben wirken sie traurig und alles Andere als zufrieden. Hier schmeißt uns niemand Steine nach und die Kinder winken oft richtig »süß« vom Straßenrand, drüben. Die Menschen jenseits der von Menschen geschaffenen Linie/Grenze (Ländergrenzen sind NIE etwas Anderes als in blutigen Kriegen mit Gewalt erzwungene Machtgebiete) sind sicher nicht viel anders als diejenigen diesseits, aber Systeme, Ideologien (z. B. Mao) und die herrschenden politischen Verhältnisse haben sie so unterschiedlich geprägt. Nach 20 km auf der größtenteils weiter bergab führenden Straße holt mich Martin ein, 10 km weiter machen wir an dem mit Fernando verabredeten Treffpunkt Pause. Wir warten und ich werde ungeduldig, denn Fernando kommt erst eine dreiviertel Stunde später. Kathmandu, es wird knapp. So will ich alleine weiter fahren, denn ich stehe nun unter »Strom«, aber ihnen ist es halt egal, ob sie heute oder morgen in Kathmandu ankommen. Doch die beiden überreden mich, es mit ihnen gemeinsam zu versuchen. Endlich weiter, und wie! ASPHALT, durchgehend von hier bis Kathmandu (noch 86 km)! Jetzt weiß ich fast sicher, dass mein Rad bis Kathmandu halten wird. Das beflügelt mich. Zudem geht es auf dem Asphalt und in der Ebene so leicht. Am liebsten würde ich jetzt voll durchstarten. Aber Martin bekommt immer mehr Probleme mit seinem sich mehr und mehr loslösenden Pedal. Oft muss er so sogar die Hügel hoch schieben. So zeichnet es sich ab, dass wir Kathmandu auch heute nicht erreichen. Sch…! Am Nachmittag erreichen wir so im wahrsten Sinne des Wortes den »Tiefpunkt« unserer Tour, wir sind nur noch 600 m hoch, 48 Stunden zuvor befanden wir uns noch auf 5200 m. Wie gesagt, auf einer europäischen Straße bräuchte man für diese Strecke vielleicht vier, fünf Stunden. Immer mal wieder regnet es. Meist nicht lange anhaltend, dafür umso kräftiger. Am Abend erreichen wir dann nach einer 12 km langen Steigung Dhulikhel (noch mal 1600 m hoch) bereits in der Dunkelheit. Wieder habe ich starken Durchfall. Aber das stört mich erst mal nicht, als ich höre, dass ich von diesem Ort eine E-Mail verschicken kann. Die Heimat wird informiert. Ich selbst und v. a. die mit mir »Leidenden« sind nun beruhigt. Nach dem ausführlichen Abendessen (pro Person mindestens zwei Toasts und drei Sandwichs) kommt der Wirt beiläufig mit der Meldung, dass in unserem Zimmer nur zwei Betten stünden. Da es aber bereits nach Mitternacht ist, bleibt uns nichts übrig, als das Beste aus dieser Situation zu machen. Wir schieben die zwei Betten zusammen und versuchen zu dritt auf dem »Quasi-Doppelbett« zu schlafen. Fernando liegt in der Mulde, ich drohe jederzeit von der Kante runter zu kippen; und Moskitos gehen um! Wir können nicht viel machen und werden gestochen, gestochen und noch mal gestochen! Angst vor Malaria! Aber Fernando erklärt uns lange, dass wir hier sicher sein müssten. Dann startet mal wieder Diarrhöe. Und wie! Toilette, Bett, Toilette, Bett. Und jedes Mal noch versuchen, die Anderen – sofern sie gerade mal Schlaf gefunden haben sollten – nicht aufzuwecken. Das wird mir dann aber zuviel. Ich quartiere mich aus, lege mich mitten auf den Flur, finde zufällig noch eine schäbige, alte Decke, die ich mir unterlege. Dennoch verdammt hart. Aber ab und zu döse ich wenigstens.