10. August

Heute soll sich herausstellen, was ich habe. Christophe aus Sion vom französischsprachigen Teil der Schweiz, mit dem ich vor eineinhalb Monaten in Kathmandu einen Meditationskurs gemacht habe und der zu meiner großen überraschung immer noch da ist, hat mir schon vorgestern empfohlen zum französischstämmigen und auch englischsprachigen Arzt der französischen Botschaft zu gehen. Der Weg für mich dorthin ist zu weit – ca. 1 km. In der Fahrradrikscha werde ich auf den kleinen (und schlechten) Nebenstraßen stark durchgeschüttelt, jeder Schlag wirkt auf mein verletztes Bein wie ein Hammer. Dem Arzt erzähle ich zuerst von meiner Diarrhöe. Ja, für Tibet-Reisende sei das normal und wahrscheinlich hätte ich eine »Mischung« von Giardia-Infektion und Amöbenruhr. Genaueres werde der Stuhltest ergeben, ich solle aber gleich mal starten, Tabletten gegen beides zu nehmen. Sofern ich dann doch was Anderes hätte, könnte ich die Tabletten (Antibiotika!) ja wieder absetzen. Zu meinem rechten Bein bemerkt er, dass es sich um eine Thrombose oder Muskelbeschwerden handeln könne. Dafür solle ich eine Untersuchung in einem von ihm vorgeschlagenen Krankenhaus machen. So geht es gleich weiter: Mit einem Taxi zur ersten Klinik. Hier wird ein Bluttest gemacht. Dabei gilt es natürlich für mich darauf zuachten, dass die Spritzen steril verpackt sind. Einen Stuhltest soll ich dann am Abend vorbeibringen. Weiter zum nächsten Krankenhaus. Diesmal ein Großes! Na ja, richtig sauber scheint es hier ja nicht zu sein. Vor manchen Untersuchungszimmern – so auch vor dem des mir vom »französischen Arzt« vorgeschlagenen Doktors – warten extrem viele Leute. Es heißt zu stehen bzw. zu sitzen. So brutale Schmerzen peinigen mich, dass ich manchmal gerade schreien möchte. Aber ich falle als einziger Weißer weit und breit unter lauter Nepals hier eh schon genügend auf. Als ich an der Reihe bin, teilt mir der Arzt mit, dass er die Instrumente für die bei mir durchzuführende Untersuchung (»Doppler«) gar nicht habe. Aber freundlicherweise ruft er dann in einem anderen Krankenhaus an und vermittelt mir den notwendigen »Doppler-Test«. Also wieder aus dem Hospital raus humpeln, auf der Straße ein Taxi suchen und weiter zum nächsten Krankenhaus. Dort muss ich erst mal zahlen und irgendwann werde ich dann aufgerufen. Auf eine Bare soll ich mich legen (wie angenehm!) und dann begrüßt mich der Arzt in nur leicht gebrochenem Deutsch! Ja, er habe in Münster studiert und wäre anschließend bis 97 noch zwei Jahre Assistenzarzt an der dortigen Uniklinik gewesen. Das schafft in meiner Notlage sogar bei mir Vertrauen. Mit einer Art Ultraschall kann er sich genau das »Innere« meines Beines anschauen. Es dauert lange, bis er was findet (zuvor immer nur:»Alles optimal«; warum kann ich dann aber nicht mehr gehen?). Dann aber erwischt er genau die Ursache des Schmerzes: THROMBOSE im oberen Bereich meiner rechten Wade!!! Thrombose, bekommen das nicht nur »alte Leute«? Und wichtiger: Was bedeutet dies für die Fortsetzung meiner Tour? Die niederschmetternde Antwort: Einige Tage komplette Bettruhe, dann lange schonen und MIT SPORT KöNNE ICH FRüHESTENS IN 3-6 MONATEN(!) WIEDER BEGINNEN. Nein, nein, das kann und darf nicht sein. Am Nachmittag soll ich noch mal kommen, dann würden wir die weitere Vorgehensweise besprechen. Auf dem Weg zurück ins Hotel will ich noch beim Postamt vorbeischauen. Ich will noch meine zwei Pakete abholen, dass ich in den nächsten Tagen im Bett wenigstens was zum Lesen habe. Aber wieder mache ich eine neue Erfahrung: Die Nepalesen an sich sind sehr freundlich und hilfsbereit; die aber in allen öffentlichen ämtern scheren sich nur einen Dreck um ihre Kunden und überall in diesen ämtern sind sie so faul, dass der faulste europäische Beamte sofort als »Arbeitsbiene« heraus stechen würde. Niemand will mir auf meine freundliche Bitte hin meine Pakete geben, ich solle selbst in (dicken) Büchern meinen Namen suchen, denn alle hier angekommenen Pakete seien in diesen Büchern verzeichnet.

Zehn Beamte sitzen in der Zwischenzeit herum, trinken Tee, unterhalten sich, lesen Zeitung und »gucken Löcher in die Luft«. Zu ihrer Verteidigung muss man allerdings sagen, dass sie für unsere Verhältnisse unvorstellbar geringe Löhne beziehen und so wohl auch keinerlei Motivation zum Arbeiten haben. Ich suche über eine Stunde in diversen Büchern, kann die Schrift oft kaum entziffern und verzweifle. Mein Bein schmerzt und ich flehe sie an, mir zu helfen. Keiner rührt aber nur einen Finger. Wütend und fluchend verlasse ich das Postamt. Zurück im Hotel, fällt mir ein, dass ich keinerlei Behältnis o. ä. für den Stuhltest habe. Ich rufe noch mal den »Hotel- Arzt« an. Der will mir dies nur geben, wenn er mich für (viel Geld) untersuchen kann. Ich erkläre ihm meine Lage, dass ich schon behandelnde ärzte habe und auch ein »armer Student« sei. Wirkt alles nichts. Ihr verdammten, nur am Geld orientierten ärzte! Haben manche von Euch denn gar keine Ethik mehr, in der auch mal Helfen für weniger Geld noch reinpassen würde??? So humple ich mit großen Schmerzen lange durch die Stadt von einer »Pharmacie« zur nächsten. Alle geben mir aber nur eine Filmrolle, wenn ich ein »piece for stooltest« verlange! Irgendwann kapiere ich, dass dies wohl die nepalesische Version des Stuhltests ist. Es ist interessant, wie die Leute auf einen »humpelnden Weißen« reagieren: Viele starren mich an, das haben sie wohl noch nicht oft gesehen; oft wird mir – meist nicht wirklich interessiert (vgl. »How are you«?) – die Frage gestellt: »What happened«? Beim Trekking? Die Rikscha- und Taxifahrer stürzen sich jetzt richtig auf mich, ich scheine ein »gefundenes Fressen« für sie zu sein. Vor den Straßenhändlern kann ich jetzt nicht mehr flüchten, sie versuchen nun noch aufdringlicher, mir all ihren »Schrott« anzudrehen. In irgendeiner Form fühle ich mich vielen Nepalis nun aber mehr verbunden als zuvor: Viele humpeln hier, einige sind total verkrüppelt. Viele Leute haben eben nicht genügend Geld, um sich einen Arztbesuch leisten zu können und so können oft an sich gar nicht so tragische Beschwerden durch Komplikationen schwer wiegende Folgen (oft bis zum Tod) nach sich ziehen. Ich habe einen gar nicht so armen Nepalesen getroffen, der schon eine ernsthafte Verletzung an einem Bein hatte. Einen Arztbesuch (aber nur bei einem »billigen Arzt«) konnte er sich gerade noch leisten, aber die stark empfohlenen drei Wochen Bettruhe nicht. »Ich muss doch arbeiten, ansonsten würden wir (seine Familie und er) verhungern«. Und ich bin jetzt – im Gegensatz zu den meisten aus dem Westen hier Reisenden – auch einer, der nicht richtig »funktioniert«. Nun ist es schon wieder Zeit, ins Krankenhaus aufzubrechen. Ich stoppe einen Taxi, aber der Fahrer verlangt aufgrund meiner sichtbaren Behinderung (ich BRAUCHE ein Taxi) einen unverschämten Preis. In diesem Moment kommt ein Englisch sprechendes Paar zu mir herbeigeeilt. Ob sie mir helfen könnten? Ich weiß es nicht, denn ich bin schon auf dem Weg ins Krankenhaus, wo die weitere Vorgehensweise zur Lösung meines Problems besprochen werden soll. Ob es mir helfen würde, wenn sie mit mir im Taxi mitfahren? Klar, warum nicht? Es handelt sich um Yorit und Aviram aus Israel, sie sind ungefähr in meinem Alter. Aviram ist Biologe und er kennt sich so auch in medizinischen Dingen ganz gut aus. Beide sind seit knapp einem Jahr mit einem roten Motorrad (mit Seitenwagen!) unterwegs in Asien. Zuletzt waren sie in einem kleinen Dorf ganz im Westen Nepals. Dort waren sie die ersten Touristen überhaupt, so dass sie unglaublich tolle Erfahrungen in Bezug auf Gastfreundschaft machen durften. Im Gegenzug wollen sie ihnen nun helfen, Elektrizität ins Dorf zu bekommen. In Kathmandu sind sie nun nur, da eine Frau aus »ihrem« Dorf todkrank wurde und sie diese nun in ein Krankenhaus hierher gebracht haben. Wir kommen an »meinem« Hospital an. Ein anderer Arzt als heute Mittag empfängt mich. Aber auch er spricht Deutsch (Studium in Düsseldorf). Aviram meint, dass es besser wäre, wenn ich erst mal in einem Krankenhaus stationiert werden würde. Der Arzt bestätigt dies, teilt uns aber gleichzeitig mit, dass dies hier nicht möglich sei, da es in diesem Krankenhaus keine Betten gäbe. Er überweist mich so ins »Teaching Hospital«. Es folgt eine längere Taxifahrt und dann ist meine »Gehzeit« erstmal beendet: Ich bekomme einen Rollstuhl untergeschoben; Aviram schiebt mich in den Aufnahmeraum. Immer wieder kommt jemand vorbei, lässt mich einen Bogen ausfüllen, stellt Fragen und unternimmt kleine und kleinste Untersuchungen an mir. Dafür wird dann immer gleich Geld verlangt. Auch muss ich für meinen gesamten Aufenthalt hier einen Vorschuss zahlen. Andere Leute werden eingeliefert. Da komme ich mir wie ein extrem Gesunder vor – aber nur im Gegensatz zu ihnen! Da ist zum Beispiel ein Jugendlicher, der sich vor Schmerzen krümmt und in Kissen beißt, damit er nicht laut schreien muss. Es dauert »ewig«, bis sich jemand um ihn kümmert. Kurz nach einer Spritze lassen seine Schmerzen stark nach, er kann sogar wieder lachen. Schön! Aber da ist auch ein kleiner Junge, dessen Eltern sich nahe über ihren Sohn beugen, ihm ständig seinen Namen zurufen. Der aber kann überhaupt nicht reagieren. Yorit und Aviram besorgen mir Wasser, Bananen und Brot. Denn Essen gibt es hier nur auf Bestellung! Aber WANN hätte ich bestellen sollen? In welches Zimmer soll ich gehen? Die Vielbettzimmer sind ebenso wie die Einzelzimmer belegt. So bleiben nur noch die Doppelzimmer und die»Luxus-Suite«. Der Preisunterschied ist gewaltig: Für ein Doppelzimmer zahle ich knapp 20 DM, für die »Luxus-Suite« über 250 DM. Da ich nicht weiß, ob ich für Krankenhausaufenthalte im Ausland genügend versichert bin, entscheide ich mich für das Doppelzimmer. Ich werde in den dritten Stock geschoben. In meinem Zimmer liegt noch ein älterer Nepalese, der scheinbar gerade von seiner Familie besucht wird. Sie grüßen freundlich, aber Englisch kann keiner von ihnen. Aviram und Yorit bleiben noch eine Weile hier. Sie wollen Fernando ebenso über die aktuelle Lage informieren wie die gesamte Email-Leserschaft mit einem kurzen Mail. Sie bieten mir auch an, meine Eltern zu informieren. Aber ich glaube, dass diese dann nur noch nervöser werden würden. Denn was soll Aviram zu ihrer Beruhigung sagen? Besuchen wollen sie mich »natürlich« auch noch. Was es doch für freundliche und hilfsbereite Menschen auf dieser Welt gibt! Dann kommt der »große Moment«: Ich werde an den Tropf (Heparin) gehängt, das erste Mal im Leben. Ja, der (geplante) Weltumradler Christoph Fuhrbach, der vor eineinhalb Wochen noch bis auf 6600 m hoch geradelt und getrekkt ist, HäNGT AM TROPF!!! Mein Blut ist extrem zäh. Wahrscheinlich war ich in Tibet meist (zumindest latent) dehydriert. Dazu kam, wie der Bluttest ergeben hat, eine schlechte Leberfunktion. Wer weiß, vielleicht hatte ich sogar eine Hepatitis(A), auch wenn ich dagegen erst vor einem halben Jahr geimpft wurde. Aber der Impfschutz soll nur bei 80-90 Prozent liegen. Na ja, jedenfalls muss mein Blut nun flüssiger werden, nur dann kann sich die Thrombose »auflösen«. Die Gefahr für mich liegt nämlich darin, dass – wenn irgendeines der Blutgerinnsel zur Leber oder zum Herzen gelangt – ich schnell möglicherweise »die Blumen von unten wachsen sehe«. Aviram und Yorit gehen. Nun fällt mir erst richtig auf, wie laut es im Zimmer ist. Alle schnattern sie. Einer lauter und länger als der andere. Ohne Punkt und Komma. Natürlich verstehe ich nichts. Ich würde gerne schlafen, aber neben diesen lauten Gesprächen stört mich noch die sperrangelweit geöffnete Tür. Ständig kommen Leute vorbei. Warum geht der Besuch nicht? Weil wir in keinem westlichen Land sind und die Angehörigen bei ihrem kranken Familienmitglied schlafen. Die Frau im Krankenbett, eine andere Frau auf der harten Bank und die zwei Söhne auf dem Fußboden. Das Zimmer ist belegt.