Tage in einem Krankenhaus sind lang. Die Chronometer zeigen zwar für solche Tage auch nur 24 Stunden an, aber die »innerer Uhr« widerspricht dem ständig. Erschwerend kommt in einem »fremden Land« hinzu, dass Freunde, Bekannte und Familie weit weg sind, so dass sie einen nicht besuchen können. Keine deutschsprachigen Zeitungen, Zeitschriften oder Bücher. Kein TV oder Radio. Auf gut Deutsch fast nichts zum Zeitvertreib. Da bleibt mir nur das »Anschauen« der hier genauso langweiligen, da eintönigen, hier nur etwas schmutzigeren und daher auch graueren Zimmerwände und ihrer »Hausbewohner«, der Spinnen, Ameisen und Kakerlaken. Natürlich kann ich auch beobachten, wie der nächste Tropfen aus meinem »Fläschchen« raustropft, um in meine Blutbahn zugelangen. Ich könnte mich auch über die Essensausgabe ärgern, die mir immer wieder Essen bringen, obwohl ich ihnen schon X-Mal gesagt habe, dass ich kein Essen brauche und auf all meine Vorräte (immer wieder frisch von Fernando besorgt) auf dem Tisch verwiesen habe. Am Ende meiner Zeit hier haben sie es dann auch verstanden. Ich kann über die Vergangenheit nachdenken, mich auf die Zukunft (sofern es eine geben wird) freuen, was manchmal sogar dazu ausartet, dass ich hier im Hospital (also bereits in der Ferne), starkes Fernweh – verbunden mit der Sehnsucht weiterreisen zu wollen – bekomme. Und mir wird klar, dass ich nur noch ein gutes halbes Jahr zum Reisen haben werde, es aber noch sooo viel auf meiner Route zu sehen gibt. »Meine Route«? Vielleicht wird es nötig werden, sie nun noch weiter abkürzen zu müssen. Vielleicht werde ich sie auch noch ein bisschen abändern, andere Plätze den bisher geplanten vorziehen. Und mir wird auch deutlich, dass ich bereits jetzt hinter meinem ausgedachten Zeitplan liege. Die nächsten Wochen werden aber erst mal dem Regenerieren vorbehalten sein. Und im März ruft halt der Speyerer Bischof. Ich hoffe nur, dass er mir auch einen positiven Bescheid zu meiner Einstellung geben wird, ansonsten werde ich sicherlich ärgerlich. Im verregneten Deutschland zu sitzen, obwohl ich gerade in Mexiko Ostern feiern und dann erst im Frühsommer nach Deutschland zurückkehren könnte, wäre nämlich wirklich nicht lustig. Nachdenken könnte ich natürlich auch über die Gegenwart. Warum das alles? Aber was soll es mir bringen? Warum ich krank bin, weiß ich: Ich hatte in Tibet nicht genug von diesem so scheußlich schmeckenden Wasser getrunken, dieses »zu wenige Wasser« war aber genug, um meine Leber vorerst auszuknocken. Giardia hat den Rest besorgt. Ich kann nur froh sein, dass dies nicht am Camp IV in der Nähe des Everest passiert ist.
Nicht auszumalen, was das bedeutet hätte. Natürlich könnte ich mir auch Gedanken darüber machen, dass ich momentan in einer recht großen Gefahr bin, recht plötzlich aus dem Leben zu scheiden. Hier auf meiner Station gehört das Ableben der Patienten sowieso zum Alltag. Täglich rafft es im Schnitt hier einen weg. Ich bemerke das zuerst an der an lauten Schreien sichtbar werdenden Trauer der Angehörigen. Irgendwann später sehe ich dann das Totenbett auch an meinem – meist ja sowieso geöffneten – Zimmer »vorbeirollen«. Habe ich Angst davor, möglicherweise auch bald nicht mehr unter den Lebenden zu weilen? Ich glaube, schon ein bisschen. V. a. wäre es schade, denn ich hätte ja so Manches gerne noch angepackt, unternommen. Und meine Eltern würden sich vorwerfen, mich überhaupt auf die Reisehaben gehen zu lassen. Dabei hat mir diese Reise doch schon geholfen, etwas von dem Wichtigsten, vom »Sinn des Lebens«, fühlen zu können. So könnte ich nun viel leichter sterben als noch vor meiner Abfahrt. Und ist das alleine nicht schon ein Riesengewinn? Ich unterhalte mich mit Fernando darüber. Er ist erschreckt über die vielen Toten hier und Nachdenken über den Tod gehört nicht gerade zu seinen »Lieblingsbeschäftigungen«. Er erzählt mir von ein paar seiner Bekannten, die »zu früh« gestorben seien. Was ist »zu früh gestorben«? Wenn ich jetzt sterben sollte, WARUM soll das »zu früh« gewesen sein? Habe ich nicht schon einige wichtige Zusammenhänge des Lebens »begreifen« dürfen? Aber ist letztlich überhaupt das wichtig? Ist nicht letztlich die Wirklichkeit so groß und wir Menschen (inklusive der sog. »schlauen Köpfe«) so klein, dass wir die Wahrheit/Wirklichkeit mit unserem Verstand – analog zu Platons Höhlengleichnis – wohl sowieso höchstens verzerrt, schattiert und verdreht erkennen können? Und dies gilt für den 27-jährigen Weltumradler genauso wie für den 85-jährigen Opa, für den der Tod doch auch noch »zu früh« kam, da er doch auch noch sooo viele Pläne hatte. Also gilt die Devise: Schonen, soweit es nur geht, um wieder gesund zu werden. Aber wenn meine letzte Stunde geschlagen haben sollte, dann kann ich daran auch nichts ändern. Dann sage ich nur »Lasst es Euch gut gehen, Freunde!« Schön ist, dass mich meine einzigen Bekannten hier in Kathmandu immer wieder besuchen. Manchmal einige Stunden niemand, dann gleich ein paar auf einmal. Da sind Yorit und Aviram, die mich mehrmals besuchen und die sich immer mit vielen medizinischen Tipps um mich kümmern. Christophe, der mir meist guten Kräutertee und ein paar Packungen meiner so geliebten Cashewnüsse mitbringt, sich immer viel Zeit lässt, mir von seinen neuesten Meditationserfahrungen sowie Geschichten aus seiner Schweizer »Jugendzeit« erzählt. Natürlich Fernando, der hier meist seinen gesamten Nachmittag verbringt. Ihm geht es zur Zeit selbst nicht so gut. Weniger körperlich, denn seelisch. Die einzige Frau, an der er jemals gehangen hat, hat ihm nun – viele Monate später – eine Mail geschrieben. Nun kommt alles in ihm »wieder hoch« und er weiß nicht, wie er sich ihr gegenüber verhalten soll. Wer kennt solche Situationen nicht? Stundenlang diskutieren wir über diese Sache. Manchmal bringt Fernando auch andere Leute mit, die er im »Nachtleben« Kathmandus kennen gelernt hat. Meist lustig und interessant. Und als gute Seele sowie friedlicher Abschluss des Tages kommt dann immer Gurung, der Mann vom Hotel. Sein Englisch ist immerhin so gut, dass es ausreicht, um über manches kommunizieren zu können. Er ist ein Jahr jünger als ich, aber – wie es sich in Asien gehört – schon länger verheiratet und hat zwei Kinder. Er kommt aus dem geographischen Zentrum Nepals, aus Gurkha. Also von da, wo die weltbekannten Kämpfer herkommen, die in allen wichtigen Kriegen unseres Jahrhunderts eingesetzt wurden. Auch er war lange bei der Armee, bis ein Bruder getötet wurde. Seitdem ist er der »brave« und von allen Gästen geliebte Türsteher im Hotel. Er erzählt mir ein bisschen über die Alltagsprobleme bei seiner Arbeit und über die für mich unglaublich geringe Bezahlung: Umgerechnet nicht einmal 40DM im Monat(!), obwohl erträglich (sieben mal in der Woche!) mindestens acht Stunden arbeitet, häufig auch länger. Da kommt er beim besten Willen nicht auf 20 Pfennig Stundenlohn. Miete hat er aber schon 30 DM im Monat zu zahlen. Was bleibt da noch übrig? Fernando hat ihm meine Luftmatratze mitgebracht, so dass er wenigstens »weich« schlafen kann. Mein Krankheitsverlauf ist unspektakulär: Zwei Tage komplette Bettruhe, ohne auch nur einmal aufzustehen, von da an mute ich mir immerhin zu, wenigstens die 3 m zur Toilette zu humpeln, was gar nicht so leicht ist, da ich ja an den Tropf angeschlossen bin, so dass ich das ganze »Gelumps« immer mitschleppen muss. Mein Rücken schmerzt vom vielen Liegen. Ich weiß oft nicht mehr, in welche Richtung ich mich noch drehen soll. Dann erlauben mir die ärzte aber immerhin, mich täglich ca. eine halbe Stunde aufsetzen zu dürfen. Nach vier Tagen werde ich vom Tropf befreit, bekomme nun nur noch oral »Wafarin« verabreicht. Für mich ist jetzt der eigentliche Grund im Krankenhaus zu bleiben, zunichte. Ich will zurück ins Hotel. Dort habe ich mehr Ruhe, kann besser schlafen und im Notfall kann ich per Telefon sofort Hilfe rufen. Hier aber ist das Verhältnis Personal-Patienten noch deutlich schlechter als bei uns. Vor ein paar Tagen hatte ich einen richtigen Schreck bekommen: Meine Flasche hatte »ausgetropft« und in den kleinen Schläuchen stand bereits Blut. Es wurde zusehends mehr. Ich rief nach Hilfe. Aber niemand kam. Dann wurde ich lauter, nichts passierte. Dann versuchte ich es eindringlich, aber alles vergebens. Nach knapp einer Stunde kam eine Schwester und löste dieses – Gott sei Dank – doch kleine Problem. Was aber soll ich machen, wenn wirklich mal was Ernsthaftes geschieht, was bei mir ja anscheinend noch ein paar Tage lang jeden Moment eintreffen kann? Die Notfallklingel ist hier natürlich auch »out of order«. Aber die ärzte bleiben stur. Ich solle noch bleiben. Vielleicht auch, da ich als Ausländer dreimal so viel Geld einbringe wie ein Nepali? Ein Arzt erzählt mir, dass ich noch eineinhalb Wochen (ohne mich!) hier zu bleiben habe, ein Anderer meint am folgenden Tag, dass ich noch zwei Tage »zur überwachung« da bleiben solle. Ja, ja die ärzte. Die sind ja auch bei uns ein interessantes Thema. Differierend aber ist hier, dass sie auch dem Patienten gegenüber mit gespaltener Zunge reden. Was der eine eben noch sagt, ist bei dem Nächsten jetzt schon nicht mehr wichtig. Viele bereiten mir durch ihre hektische und dramatisierende Art eher Stress und Unwohlsein, teilweise sogar Angst. Obwohl ich vor Autoritäten nie mehr Respekt als notwendig habe, kann ich doch positiv feststellen, dass bei meinen drei Berührungspunkten mit Krankenhäusern in den letzten Jahren meine Erfahrungen mit den Chefs, den Professoren, doch durchweg positiv waren. SIE waren es, die mir meine Probleme genau erklärten und auch die Folgen, die das für mich hat. Das taten alle ruhig und besonnen. Und sie verhielten sich mir gegenüber nicht überheblich, wie das so manch anderer Arzt getan hat. Die Professoren jedoch nahmen sich viel Zeit für mich und bei ihnen hatte ich das Gefühl, dass sie mich ernst nahmen. Tolle Leute, die allesamt wirklich an diesen Posten zu gehören scheinen. Damit es in den verbleibenden Tagen nicht so langweilig für mich wird, geht Fernando – mit einem nepalesischen Schreiben des Krankenhauses ausgestattet, in dem bestätigt wird, dass ich zur Zeit ans Bett gefesselt bin – zur Post, um meine Pakete abzuholen. Fernando bekommt eines unter die Nase gehalten, aber nicht ausgeliefert, da ermeinen Personalausweis bräuchte. Also echt nur EIN Paket und Fernando meint, dass es recht klein sei. Viele Bücher könnten da nicht drin sein. Mist, das »muss« das unwichtigere Paket sein. Dafür bringen mir wenigstens Christophe sowie die baskische Lehrerin, die gerade von ihrer Meditationswoche zurückgekehrt ist, »Focus« und »Stern« mit. Zuhause lese ich normalerweise keine Zeitschriften dieser Art, wenn aber doch ein Mal, dann kam mir bis dato nur der »Spiegel« unter. Eigentlich lustig, die bekanntesten deutschen Wochenzeitschriften in Nepal kennen zu lernen. Der »Stern« gefällt mir vom Niveau her nicht, aber der »Focus« hat doch schon ein paar Informationen zu bieten, v. a. für jemandem, der schon seit viereinhalb Monaten auf Reisen, fernab der Heimat, ist. Da gab es also Bombenanschläge auf amerikanische Botschaften, ein Grubenunglück in österreich etc. Am interessantesten scheint in Deutschland bereits die erst in sechs Wochen stattfindende Bundestagswahl zu sein, bei der NATUERLICH besonders diesmal über Wohl und Wehe der Nation abgestimmt werde, also eine richtige Schicksalswahl für das Volk. Für mich mit dem geographischen und inzwischen auch zeitlichen Abstand zu Deutschland sind so manche Sprüche der Politiker eher erheiternd. Oder noch öfters traurig. Anstatt wirklich mal die Probleme des Landes und die der Welt anzupacken, wird doch wieder nur kräftig auf »die jeweils andere(n) Partei(en)« geschimpft. Im Westen halt nichts Neues! Eine Partei mit Weitblick habe ich in Deutschland immer noch nicht entdeckt. Die einzige etwas größere Partei, die am Ausgang des Winterswirklich noch ein alternatives Wahlprogramm vorgelegt hatte, ist inzwischen anscheinend auch so machtgeil und prozentorientiert, dass sie ihr Programm anscheinend stark relativiert hat. Und dann lese ich von der nun immer wahrscheinlicher werdenden »großen Koalition«. Vielleicht hätte dies wenigstens den Vorteil, dass sich die großen Parteien bei längst überfälligen Entscheidungen nicht mehr – nur um die eigenen Eitelkeiten zu pflegen – blockieren würden. Bei dem Kanzlerkandidaten der SPD (WO bleiben die sozialen Ideen eurer »Gründerväter«?) scheint der kleine Restunterschied zur CDU (das »C« solltet ihr ehrlicherweise vielleicht endlich mal über Bord werfen!) sowieso fast komplett aufgehoben zu sein. Ob dieser Mann als Kanzler eine »Wende« herbeiführen kann, bleibt MIR mehr als fraglich. Zumindest die von seinen »Genossen« so angepriesene Wende. Der gute Uli Hoeneß lässt sich über die Europaliga aus (bei der auch der FCK dabei sein soll?!!), Harald Schmidt nimmt die Steuermoral, aber auch die immer unattraktiver gewordene deutsche Wirtschaft aufs Korn, der smarte Westernhagen hat scheinbar eine neue CD rausgegeben und ich kann mir die z. Zeit zehn meistgekauften Scheiben in Deutschland durchlesen, von denen mir kein(!) Lied vom Titel her bekannt vorkommt. Das gleiche gilt bei den in Europa aktuellen Büchern und Filmen. Der eine oder andere mir bekannte Sportler, Politiker oder »Unterhaltungskünstler« – halt die »öffentlichen Personen Deutschlands« – kommen noch zu Wort. So habe ich für einige Stunden das Gefühl, mich in Deutschland zu befinden. Auch mal wieder nicht schlecht. Als dann aber die Krankenschwester in mein Zimmer reinkommt, spätestens als ich bemerke, dass ich sie auf Deutsch begrüßt habe und sie das natürlich nicht versteht, spätestens dann realisiere ich, dass ich in Nepal bin.