Ötztaler 2014

Sehr unruhig geschlafen. Der starke Regen in der ersten Nachthälfte macht mich nervös. Plötzlich aber endet er und der Himmel klart auf. In mir steigt Optimismus auf, dass alles gut gehen wird.

Genieße die Atmosphäre beim Frühstück um 4:30 Uhr. Manche sind angespannt, Andere locker drauf. Wir alle  aber sind in gespannter Erwartung, was uns heute erwarten wird.

Ich bin erst zwei Radmarathons in meinem Leben gefahren, neben dem Highlander vor drei Wochen den Ötztaler 1995, Den Ötztaler „damals“ fuhr ich aufgrund einer Wette,  auf einem MTB (mit 12,7 kg) und einer gegenüber heute gut 10 km längeren und mit 300 zusätzlichen Hm gespickten Strecke – in 8:51 h. Auf der Abfahrt vom Kühtai sah ich noch die Auswirkungen eines tödlichen Unfalls eines damals 24-jährigen Steirers. Diese Bilder und die Gedanken daran haben bis heute Auswirkungen auf meine Art Rad zu fahren, seitdem habe ich mindestens Respekt beim Abfahren.

Der Ötztaler ist im deutschsprachigen Raum der mit Abstand bedeutendste Radmarahon. In Radfahrerkreisen wird oft die Stärke eines Fahrers nach der Zielzeit bei diesem Marathon taxiert.

Kurz vor 6 Uhr machen sich schon drei Frauen aus unserem Team auf nach Kühtai, wo sie uns und 27 weitere Fahrer vom Team Forchheimer und vom italienischen Beraldo-Team verpflegen werden. Wir Radfahrer rollen gegen 6:15 Uhr von unserer Pension in das Startgelände. Ich bin der Einzige von uns, der im ersten Startblock starten darf, die Anderen müssen von irgendwo aus dem Mittelfeld der 4000 Teilnehmenden starten. Aber selbst der erste Startblock ist schon sehr voll, so dass sicher schon zwei bis drei Hundertschaften vor mir starten werden. Die Zeit bis zum Start wird mit Interviews mit den Favoriten für das heutige Rennen (u.a. Roberto Cunico) sowie mit ehemaligen Radprofis wie Jörg Ludewig, Paco Wrolich und Jan Ullrich überbrückt.

Dann erfolgt der Start, unsere 225km lange und rund 5.200 Hm überwindende Reise beginnt. Nach einigen Sekunden kann ich mich auf das Rad und mich selbst in Bewegung setzen und wieder einige Sekunden später rolle ich über die Startlinie. Es geht gemächlich los, bald wird es schneller. Ziemliche Unruhe im Feld. Plötzlich touchiert mich ein Fahrer, der mich überholen wollte, stark. Ich verliere das Gleichgewicht, kippe nach links, kann mich irgendwie noch abfangen, kippe daraufhin nach rechts – und kann mich irgendwie auch da noch abfangen. Schimpfe mit dem Kollegen. Und schon geht es weiter. Das war ja ein Auftakt – noch in Sölden nach weniger als 2 km! Das Tempo wird nun deutlich angezogen, ich fahre nun mit großer Übersetzung, in den leicht abwärts führenden Passagen meist mit 50-12. In engen Kurven verliere ich immer gleich ein paar Plätze. Die Gruppen fallen auseinander: kurz vor Längenfeld nach gut 10km erkenne ich bereits vier große Gruppen. Ich befinde mich in der vierten Gruppe, die im nun folgenden Flachteil nicht so rund läuft. So beteilige ich mich an der Führungsarbeit. In der nächsten Bergabpassage verliere ich allerdings wieder einige Plätze und komme dann auch in meiner Gruppe nicht mehr nach vorne, weil von hinten immer mehr FahrerInnen nach vorne drängen. So bin ich froh, dass ich die beiden Kehren vor Ötz ohne Probleme in dieser riesigen Gruppe meistern kann.

In Ötz sind die ersten 32km rum. Für mich vielleicht der schwierigste Abschnitt, denn vor dieser Meute von 4000 RadfahrerInnen – alle voll mit Adrenalin – hatte ich großen Respekt. Nach 38 min. ist dieser Teil vorbei, ich bin vielleicht um geschätze 500 Plätze zurückgefallen, also wohl noch im ersten Viertel und vermutlich schon mit rund 4 min. Rückstand auf die Spitze. Nun ändert sich die Szene total, jetzt geht es (endlich) bergauf. Die FahrerInnen um mich fahren sehr langsam, ich kann kaum überholen. Am besten geht dies in den Kurven, wenn alle möglichst weit innen fahren wollen. Dann kann ich in der Außenkurve gut überholen. Immer wieder erkennen und grüßen mich andere FahrerInnen. So ganz langsam werden es auch weniger FahrerInnen, die vor mir sind. Mitten im ersten Berg überhole ich die in Führung liegenden Frauen, Marina Illmer grüßt mich.

In Ochsengarten überhole ich eine Gruppe, in der niemand die Führungsarbeit übernehmen will. Ich spanne mich gerne vor die Gruppe. Allerdings kann mir nach dem Flachstück niemand auf dem steilsten Kilomter des gesamten Marathons folgen. 3km später überhole ich knapp unterhalb des Stausees die nächste Gruppe. Im Kühtai wie auch schon in einigen Ortschaften zuvor etliche Zuschauende. Erste Verpflegungsstelle. Ingeborg von unserer Gruppe reicht mir meine Verpflegung: eine Flasche Soja-Schokomilch, eine Banane, einen Müsliriegel und ein halbes Brötchen. Ich reduziere mein Tempo, esse das Brötchen, was mir bei der recht großen Anstrengung nicht so leicht fällt. Die Banane und den Riegel stecke ich mir in die Trikottasche. Es ist relativ mild (7 Grad), so dass ich mich entscheide, sofort abzufahren und nicht erst noch eine Jacke drüber zu ziehen. Dabei hilft mir sehr, dass ich zumindest Ärmlinge anhabe. Frisch wird es trotzdem. Aber es wird ja Richtung Tal immer wärmer. Die Gruppe, die ich kurz vor dem Kühtai überholt hatte, fährt nun wieder an mir vorbei. Ich versuche mit zu kommen, was ich aber nicht schaffe. Die Weideroste auf der Abfahrt sind kein Problem, ich sause mit geschätzten 80km/h darüber, merke dabei fast Nichts. Ich bin froh, dass es nicht so regnet wie letzten Dienstag. Mitten auf der Abfahrt, nach dem steilsten Stück, an dem die schnellsten Abfahrer deutlich über 100 km/h fahren, holt mich die nächste Gruppe ein. In Sellrain auf der engen Ortsdurchfahrt, muss ich diese Gruppe leider auch ziehen lassen. Ganz alleine fahre ich die letzten, weniger steilen, Abfahrtskilometer bis Kematen. Dort holt mich die nächste Gruppe ein, u.a. mit dem Pfälzer Martin Waldenberger. Die Gruppe läuft einigermaßen, zwei Tiroler bemühen sich immer wieder um das Tempo. Wir erreichen Innsbruck, ich denke kurz an mein wunderbares Jahr 1993/94 hier zurück. Nun geht es den Brenner hinauf. Ich will mich nicht zu arg anstrengen an diesem so flachen, aber langen „Berg“. Aber das Tempo in der Gruppe ist mir zu langsam. So fahre ich im Anstieg viel vorne, auch wenn der eine oder andere aus der Gruppe „piano“ ruft. Peter Stier, der für die Forchheimer startet, antwortet darauf so wunderbar „piano forte!“. Bald gerät die nächste Gruppe in Sichtweite, wir holen sie ein und übernehmen gleich auch wieder das Tempo. Peter Stier ist oft daran beteilgt, ebenso der Saarländer Jan-Philp Recktenwald. Auch zwei tschechische Fahrer bemühen sich. Auf einer langen Gerade meinen wir noch eine große Gruppe erkennen zu können. Das zieht, wir halten das Tempo (einigermaßen) hoch. Und tatsächlich: wenige km später rollen wir zur ersten Verfolgergruppe auf. Hierin befinden sich die meisten Favoriten und auch die beiden Exprofis Jörg Ludewig und Jan Ullrich. Jörg Ludewig erkenne ich schnell. Wir grüßen uns gegenseitig. Jan Ullrich erkenne ich erst, als ständig ZuschauerInnen „Ulle, Ulle!“ rufen. Bei Bernd Hornetz, einem der besten Marathonfahrer der Szene, der zuletzt mit einigen gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatte und von daher wohl noch nicht wieder ganz in Bestform sein wird, erkundige ich mich nach dem Zwischenstand: nur noch vier Fahrer sind vor uns. Wir nähern uns dem Brenner. Am Ende wird er mal für einen Kilomter etwas steiler. Ich forciere das Tempo, Jörg Ludewig erhöht selbiges noch einmal deutlich. Aber auf dem folgenden flacheren Abschnitt fahren alle wieder zusammen. Ich schätze, dass wir rund 100 Leute in dieser Kopfgruppe sind. Auf dem Brenner bin ich ungefähr genau im Rahmen meines vorher ausgedachten Zeitplans, um unter 7 1/2 Stunden zu kommen.

Als wir schon am Ortsausgang sind und ich immer noch nicht unseren Verpflegungsstand erkannt habe, erschrecke ich innerlich: Kommt der Verpflegungsstand noch? Habe ich ihn übersehen? Da kommt schon die offizielle Verpflegung, die von den ersten 200 aber niemand in Anspruch nimmt (weil das zu lange dauert und alle Anderen dann schon weit weg wären). Kurz überlege ich, ob ich nun doch die offizielle Verpflegung in Anspruch nehmen soll. Nun bin ich aber doch in einer so großartigen Ausgangssituation, weit vorne dabei und die zwei Berge, die mir am besten liegen, kommen noch! Nein, da will ich die Gruppe nun nicht fahren lassen. Ich werde schon auch so noch bis zum Jaufen hoch kommen – und dort gibt es ja wieder was zu essen und zu trinken.

Die Abfahrt läuft gut, ich komme gut mit der Gruppe über Sterzing nach Gasteig am Fuße des Jaufenpasses. Kurz vor Gasteig fährt plötzlich Jan Ullrich neben mir und grüßt mich richtig freundschaftlich: „schön, Dich mal wieder zu sehen“. Nachdem ich das erwidere, bezeugen wir uns gegenseitig unseren Respekt vor der Leistung des jeweils Anderen.

In Gasteig übernimmt nun Roberto Cunico mit einem scharfen Antritt die Führungsarbeit. Die große Gruppe platzt auseinander in viele kleine Grüppchen. Ich versuche meinen Rythmus zu fahren, liege auf dem geschätzen 20. Platz. Bernd Hornetz ist mit einer kleinen Gruppe immer ganz in Sichtweite. Bis zur Mitte des Berges habe ich das Gefühl, dass ich die Gruppe bald auffahren kann. Bald darauf gewinne ich allerdings langsam den Eindruck, dass mir das Tempo schwerer fällt. Tatsächlich verliere ich zunehmend auf die Gruppe um Hornetz. Irgendwann verliere ich sie ganz aus dem Blick. Mir scheint der Saft auszugehen. Zunehmend habe ich das Gefühl, dass ich meine Kohlenhydrate verbraucht habe und nun auf Fettstoffwechsel umgestiegen bin. Damit ist kein hohes Tempo (mehr) möglich. Tatsächlich überholt mich bald zum ersten Mal heute ein Radfahrer im Anstieg, bald weitere und dann sogar eine ganze Gruppe. Ich merke auch jeweils, dass ich nicht mirfahren kann, mein „Tank“ ist leer. Ich ersehne die nächste Verpflegungsstelle, die einen km vor dem Gipfel des Jaufen sein soll. Und da kommt sie. Ein sehr freundlicher und engagierter Helfer der Forchheimer reicht mir eine Flasche Cola, dazu wieder eine Banane und einen Riegel. Schalte ganz runter und fahre nur langsam weiter, will sofort etwas trinken und vor allem eine Banane essen. Schon geht es in die Abfahrt, vor der ich mir wie auch schon am Kühtai wieder meinen dicken Handschuhe anziehe. Gott sei Dank hat sich der Nebel auf der Westseite des Berges weitgehend verzogen, die (technisch anspruchsvolle) Abfahrt ist gut zu fahren. Auf der Abfahrt verliere ich dennoch sicherlich weitere 20 Plätze. Am schnellsten schießt Jan Ullrich an mir vorbei, dessen Abfahrtsqualitäten ich bewundere. Obwohl er unglaublich schnell ist, fährt er so sicher, als würde er auf Schienen unterwegs sein.

In St. Leonhard geht es nun auf den letzten, aber härtesten Anstieg des Tages. Ich komme nicht so leicht in die Gänge. Schnell wird mir klar, dass ich die 7 1/2 h heute nicht schaffen werde. Setze mir nun die 7:40 h als neues Ziel. Kann „man“ sich von einem Hungerast in einem Rennen noch einmal so richtig erholen? Ich bin mir unsicher und habe zumindest bei mir das Gefühl, dass ich aus dem Loch nicht mehr so richtig raus komme. Bin etwas enttäuscht. Verliere auch langsam die Lust. Gehe hinter Moos dann pinkeln, der einzige Stopp in meinem Rennen. Dann geht es – kurzfristig – wieder etwas besser. So gaaaanz langsam scheine ich mich wieder etwas zu fangen. Ab und an kann ich wieder den einen oder anderen überholen. Bin gar nicht so viel langsamer als am Mittwoch, als ich allerdings auch recht locker den Berg hoch fuhr. Zumindest sind die Unterbietung der 7:40 h noch realistisch. Das gibt mir neuen Mut. Im Flachstück kann ich wieder Tempo machen, sammle Einge ein. Die letzte Verpflegungsstation: noch einmal Soja-Schokomilch mit Maltodextrin (Maisstärke). Leider war in meinem Beutel aber Nichts mehr zu essen! An der offiziellen Verpflegungsstelle greife ich daher bei einer von einem Helfer ausgestreckten Hand nach einer halben Banane. Besser als Nichts. Jan Ullrich gerät wieder in mein Blickfeld, er ist scheinbar auch nicht mehr ganz frisch. Ich muntere ihn herzlich auf. Er nimmt wieder richtig Fahrt auf und ist bald an meinem Hinterrad. Wir feuern uns gegenseitig an. Das finale Steilstück über rund 6km beginnt. Ich finde noch einmal einen brauchbaren Rythmus und überhole noch Einige. Ein guter Bekannter aus dem Sarntal taucht für mich plötzlich ganz überraschend auf und feuert mich an, was mich sehr freut. Durch den Tunnel geht es dann wieder von der Alpensüd- auf die Alpennordseite, von Südtirol/Alto Adige nach Tirol, von Italien nach Österreich. Sofort mache ich mich auf die Abfahrt. Ich bin glücklich, dass uns der Regen immer noch nicht eingeholt hat, alle Abfahrten weitestgehend trocken zu absolvieren waren. Auch der Nebel verzieht sich schnell wieder und ich kann in den Kehren beobachten, wie sich mir eine Dreiergruppe immer mehr annährt und bald darauf überholt. Dann geht es in den Gegenanstieg, in dem wir noch einmal 171 Höhenmeter absolvieren. Mir ist das Recht, dabei wird es mir noch einmal warm. Zudem kann ich alle Drei wieder richtig stehen lassen. Ab der Maustelle die finale Abfahrt. Die Drei sind bald wieder an mir vorbei, auch einige Weitere überholen mich wieder, u.a. auch wieder Jan Ullrich. Inzwischen ist klar, dass wir unter 7:40 h ins Ziel kommen werden. Am Ortseingang Sölden beginnt es zu regnen, die Straßen sind sogar schon ziemlich nass. Ein letztes Mal werde ich überholt, bevor ich in 7:37 h als 40. über die Ziellinie rolle.

Ich begebe mich in die Verpflegungszone, trinke viel warmen Tee (eine Wohltat!) und esse etliche Kekse sowie Obst. Ich freue mich über alle ins Ziel Kommenden unseres Teams und über Andere, die ich kenne und schätze. Leider ist mir aber so kalt, dass ich mich relativ schnell wieder in unsere Pension begebe, um warm duschen zu können. Inzwischen regnet es stark und wir hören immer mal wieder Rettungs- und Krankenwagen auf die Strecke ausrücken. So bin ich sehr beruhigt und froh, dass mir unsere Gastgeberin, die heute den ganzen (!) Tag an ihrem PC saß und über all ihre Gäste exakt weiß, wo sie sich gerade befinden, sagen kann, dass schon Etliche von unserem Team im Ziel angekommen sind und der restliche Teil unserer Mannschaft sich bereits auf den beiden Schlussabschnitten befindet. Bald kann sie endgültig Entwarnung geben: alle sind im Ziel! Das Feiern wir auch am Abend (bis ich noch zur Siegerehrung gehe). Beim Abendessen zeigen mir Mannschaftskollegen schon all meine acht Zwischenzeiten, anhand derer ich sehen kann, wie schnell ich unterwegs jeweils war und auf welchem Platz ich mich dabei befand. Am Kühtai bin ich die drittschnellste Zeit im gesamten Feld gefahren (obwohl ich 750 FahrerInnen überholen musste), am Brenner war ich gar der Schnellste, am Jaufen der 36. und am Timmelsjoch der 32. – in den Abfahrten war ich im Durchschnitt  so ca. auf dem 1000. Platz (besser als ich dachte!). Das Abfahren hat mir teilweise auf den abgesperrten Straßen sogar Spaß gemacht, habe  mich auch sicher gefühlt. Die Stimmung an der Strecke fand ich prima. Dass wir mit einem Team www.gutesleben-fueralle.de gestartet sind und damit immerhin den 11. Platz in der Teamwertung belegt haben, hat für mich die Sache abgerundet.