Liebe RadsportfreundInnen,
hier mein Bericht von Tag 3 Giro delle Dolomiti 2015 (28.7.):
Am Morgen messe ich meinen Ruhepuls: mit 50 ist er deutlich höher als ansonsten in letzter Zeit (ca. 40). Ob sich das schon massiv auf meine Leistungsfähigkeit auswirken wird?
Beim Frühstück ist es in unserer „Vierer-Männer-WG“ ziemlich ruhig, wir alle sind nicht mehr 100% ausgeruht. Meine Wadenmuskulatur ist nach wie vor verspannt. Mir kommt plötzlich der Gedanke, dass es daran liegen könnte, dass ich am Sonntag morgen meine Sattelhöhe verstellt habe – nachdem der Radmechnaniker in der letzten Woche meine Sattelstütze verstellt hatte, um selbst zu testen, ob sich die neue Kette mit dem alten Ritzelpaket „verträgt“. Ich konnte ihn aber nicht mehr erreichen, um wie viel er meine Sattelstütze verstellt hatte. Eventuell hatte ich die Sattelstütze am Sonntag zu hoch eingestellt, so dass die Spannung auf die Wadenmuskulatur zu stark wurde. Jedenfalls stelle ich meine Sattelstütze wieder um rund 5 mm tiefer.
Auch heute ist es wieder ziemlich bewölkt am Morgen. Aber es soll trocken bleiben – und zunehmend sonnig (und mild/ im Tal warm bis heiß).
Eigentlich dachte ich, während des Giro kaum zu viel essen zu können. Allerdings habe ich seit gestern das Gefühl, dass meine Magen überfüllt ist (obwohl ich gar nicht so viel gegessen hatte). So nehme ich mir vor, heute spürbar weniger zu essen.
Die Abläufe am Morgen automatisieren sich, bis dahin, dass ich als Letzter von uns Vieren gegen 7 Uhr von unserer Fewo zum Start aufbreche. Im Messegelände kann ich dann noch die neueste Ausgabe der Tageszeitung einpacken – und noch meinen Rucksack mit dem Essensgeschirr sowie einer warmen Jacke abgeben, die wir dann beim Mittagessen (nach dem Bergrennen) erhalten. Dann Start in Bozen, mitten durch die Stadt. Dabei sind wir durchaus ein Störfaktor im morgendlichen Berufsverkehr der Stadt und des Umlandes. Aber kaum Autofahrende scheinen sich darüber aufzuregen. Wir müssen immer hinter dem Führungsauto bleiben. Dieses gibt das Tempo vor, mal schneler, mal langsamer. Zu schnell darf es nicht sein, denn alle Teilnehmenden des Giro Dolomiti sollen einigermassem dem Tempo folgen können. Bei den großen Leistungsunterschieden der Teilnehmenden ein echter Spagat…
Heute steht die Königsetappe auf dem Programm: gut 168km mit knapp 3.500 Höhenmeter. Das Zeitfahren wird erst nach über 101 km gestertet, wir werden bis dahin schon rund 2.800 Höhenmeter absolviert haben.
Mein spannendstes Gespräch am Morgen habe ich heute mit einem jungen Norweger, der vor vier Wochen Mitglied des Siegteams von „Trondheim – Oslo“ (525km nonstop) war. Sie sind die gesamte Strecke im „belgischen Kreisel“ gefahren (haben sich ständig in der Führungsarbeit abgewechselt), haben dabei nur eine einminütige Pinkelpause eingelegt. Wer eine weitere Pinklepause brauchte, schied quasi automatisch aus der Mannschaft aus. Er berichtet mir vom notwendigen Training auch im norwegischen Winter und von sportlichen Highlight im nordeuropäischen Sommer.
Bei St. Ulrich stößt Peter Stier zu uns. Er lebt seit langem bei Brixen und ist einer der besten Bergradmarathonfahrer seiner Altersklasse. Ich habe ihn im letzten Jahr bei Highlaender und Ötztaler getroffen und schätzen gelernt. Wir nutzen das gemütliche Tempo, um uns gegenseitig von unserem aktuellen Leben zu berichten.
Wir fahren über die herrlichen Pässe der landschaftlich atemberaubenden Sellarunde im Zentrum der Dolomiten: Sellajoch, Passo Pordoi (wo ich mit Peter und Johannes auch einen Cappuchino trinke) sowie Passo Campolongo und genießen dabei die moderaten und recht gleichmäßgen Anstiege wie auch die kurvenreichen Abfahrten. So erreichen wir Covara, den Startort des heutigen Zeitfahrens, von hier aus geht es nun auf das Grödnerjoch bzw. Passo di Gardena oder (auf ladinisch, der dritten Sprache der Region) Jeaf de Frea. Der Anstieg ist 10 km lang und hat 590 Höhenmeter zu bieten. Insgesamt steigt es recht gleichmäßig. Der Wind kommt weitgehend von vorne.
Gleich nach dem Start wird mir das angeschlagene Tempo zu langsam, ich übernehme die Führungsarbeit. Bin überrascht, dass nach 1,5km nur noch zwei Fahrer an meinem Hinterrad sind, darunter auch der 62-jährige Alois Vigl! Bald müssen die Beiden aber auch reißen lassen, ich bin wieder alleine. Na, dann ziehe ich nun natürlich auch durch. Fühle mich auch besser als gestern. Bin auch froh, dass meine Übersetzung heute auch stimmig ist, ich wieder ganz rund treten kann (meist 34-20 oder 34-19). Mitten im Anstieg erkenne ich eine Kehre tiefer eine noch ziemlich große Verfolgergruppe, habe bereits rund 30 sec. Vorsprung. Fühle mich gut und ziehe mein Tempo durch. Oben sind etliche Zuschauende und bereiten mir einen schönen Empfang. Ich komme mit 24:24 min. ins Ziel, mit knapp 1 min. Vorsprung auf eine dreiköpfige Verfolgergruppe. Johannes kommt bald danach als 15. ins Ziel und kann sich damit auf Platz 9 im Gesamtklassement verbessern. Thomas, Markus, Stephan und Nico können ihre Plätze in etwa halten.
Dem Reporter von „Alto Adige“ gebe ich das inzwischen obligatorische Interview, das heute auch mit Kamera aufgezeichnet wird.
Auf dem Heimweg spricht mich noch Mirko aus Mönchengladbach an. Er ist mit seiner Familie gerade im Urlaub in Südtirol und nimmt schon zum dritten Mal in Folge am Giro Dolomiti teil. Er will v.a. einiges über meine Ernährung wissen.
Morgen ist Ruhetag. Am Donnerstag findet das Bergrennen „Prad – Stelvio“ statt.
Alle Ergebnisse von heute und den Zwischenstand nach der 3. Etappe gibt es auf www.girodolomiti.com
Seid herzlich gegrüßt,
Christoph