Liebe RadsportfreundInnen,
hier mein Bericht von der 6. und letzten Etappe (am 1.August) des Giro delle Dolomiti 2015:
Ein letztes Mail Aufstehen kurz vor 5 Uhr und kurz darauf Frühstück im Morgengrauen. Ein letztes Mal mit dem Rad von unserer Fewo hinunter auf dem schmalen und gerade von Bauarbeitern bearbeiteten Straße hinunter nach Laives/Leifers. Ein letztes Mal mit anderen RadfahrerInnen gemeinsam zur Messehalle nach Bozen. Ein letztes Mal die Tageszeitung anschauen, in der ich heute neben den Standardbegriffen „Mr. Birkenstock“ und „fenomeno“ als „assoluto padrone“ der gesamten Rundfahrt beschreiben werde. Ein letztes Mal um 7:30 Uhr Start. Ein letztes Mal gemütlich aus Bozen rausrollen, samt Gesprächen mit Anderen. Heute erzählt mir Einer einen wesentlichen Teil seiner jüngeren Lebensgeschichte, die mich sehr beeindruckt. Da tritt unser radfahren in den Hintergrund. Und schon sind wir nicht mehr weit vom heutigen Bergzeitfahren entfernt, das schon nach 16,5km startet.
Da ich auf dem kurzen Zeitfahrstück von nur 1,4km (mit 165 Hm) nicht mitten im Feld starten kann (ich könnte kaum an den Massen flott vorbei fahren) beschließe ich, eine von mir schon am Morgen angedachte Option zu ziehen: alle RadfahrerInnen mindestens 5 min. vor zu lassen und dann als Letzter auf die Piste zu gehen. Nico bekommt das mit und bietet mir an, 2 min. vor mir zu starten. Wenn ich ihn dann oben sehen würde, solle mir das eine Motivation sein, ihn noch versuchen einzuholen. So machen wir es: Nico startet, ich fahre noch einmal warm, kurz auch schnell. Dann muss schon 1:47 min. nach Nico über die Zeitfahrmatte, denn die Kollegen wollen nun bald schon wieder abbauen. Weil der Berg sehr kurz ist, fahre ich mit einem für mich hohen Tempo (wenn auch sicher nicht so schnell wie die Spitze). Schon nach 1 min. bin ich sehr angestrengt. Fahre die über 10% Steigung mit 34-23. Ziehe das auch noch durch, als die Strecke etwas abflacht. Als die Steigung dann dauerhaft auf deutlich zweistellige Werte anzieht, wechsle ich auf 34-25. Als es noch steiler wird, gehe ich aus dem Sattel. Meine Oberschenkel brennen. Aber ich weiß, dass dies gleich vorbei ist. Ziehe daher mein Tempo durch. Sehe dann Nico, er schlägt sich gut. Gehe aus dem Sattel, will keine Sekunde verschenken. Überhole nun ein paar FahrerInnen, ein Russe quert meinen Weg. Muss ihm etwas ausweichen. Komme ins Ziel. Ausgepumpt wie ansonsten höchstens noch am Refugio Gardeccia. Habe das Gefühl, gut gefahren zu sein: 4:37 min. und damit schneller als ich vorher dachte. War bestimmt wieder vorne mit dabei. Wobei mir Einige sagen, dass die Ersten wohl mindestens 4 1/2 min. gefahren sind. Sicher ist: ich habe ein weiteres großes Saisonziel erreicht: ich bin Gesamtsieger des Giro delle Dolomit 2015! Das muss ich nun erst einmal verdauen.
Gelöste Stimmung im Ziel: viele Fotowünsche – viele Emotionen. Mitten dabei auch Edith Vigl, die mir schon die ganze Woche aufgefallen ist. Sie ist extrem kurzwüchsig, aber immer mit einer positiven Ausstrahlung. Das Gefühl, dass wir diese Woche mit den Bergzeitfahren irgendwie alle auch gemeinsam geschafft haben. Fast wie beim Abschluss einer bewegenden Fortbildungswoche…
Aber es geht weiter. Abfahrt zum Kalterer See und Anstieg nach Kaltern. Von dort fahre ich noch zusätzlich zum Mendelpass hinauf. Es ist ein Berg, der für mich wie geschaffen ist in diesem Moment: wunderbar gleichmäßig, nie steil – und doch geht es deutlich bergan, mit zunehmend besserem Ausblick auf Kaltern, das Etschtal und Bozen. Ich lasse die Woche Revue passieren: sportlich konnte ich ein grandioses Radsportjahr krönen, mit vier Etappensiegen und dem souveränen Gesamtsieg. Inhaltlich konnten wir als Team auf unsere Kampagne www.gutesleben-fueralle.de super aufmerksam machen, mit vielen Interviews, auch in persönlichen Gesprächen usw. – alle in unserem Team hatten in der Woche viele schöne und gute Erlebnisse. Wir haben neue Menschen kennen un schätzen gelernt. Wir werden gestärkt in unseren Alltag zurück kehren.
Ich bekomme Hunger und gehe in eine Bäckerei (esse großes Stück Apfelstrudel). Danach fahre ich mit hohem Tempo unserem Feld hinterher (ich habe rund 80 min. Rückstand). Am Wendepunkt in Mezzacorona (gut 15 km nördlich von Trento) hole ich das Feld auch noch nicht ein, sie haben ihre gut halbstündige Pause schon beendet und sind schon wieder auf dem Heimweg Richtung Bozen. Entlang der Südtiroler Weinstraße genieße ich noch einmal die tollen Berge. Beim Anstieg nach Kaltern hole ich den Besenwagen des Giro ein, überhole von nun an die ganze, lang auseinander gezogene, Karawane und stelle beim Ortseingang Bozen den Anschluss an die Spitze her. Ein letztes Mal gemeinsame Einfahrt auf dem Messegelände in Bozen. Ein letztes Mal die Ergebnisse vom Tag anschauen: heute waren mal ganz Andere vorn, vor allem Jüngere. Siegeszeit: 4:21 min. – Ed Rizzi wird von den Topfahrern als Vierter Tagesbester, ich bin Tagessiebter. Das ist für diese extrem kurze Strecke o.k. – meinen Vorsprung in der Gesamtwertung kann ich sogar noch auf 7:58 min. ausbauen, auf Roberto Napolitani. Eduard Rizzi wird wie so oft Dritter der Gesamtwertung. Johannes wird guter Tageselfter und verteigt souverän seinen 10. Platz in der Gesamtwertung – direkt hinter dem 62-jährigen und so sympathischen (weil natürlichen) Alois Vigl (der überhapt keine Technik am Rad hat, nicht einmal eine Armbanduhr). Für mich ist Alois der sportliche Held der Woche. Nico ist heute stark gefahren und kann sich hinter Thomas und Stephan, der heute zu schnell anging, zum ersten Mal in unseren Team (nur die ersten 5 der Mannschaft) plazieren. Markus, der am Anfang der Woche starke Leistungen gebracht hat, musste nun gegen Wochenende hin etwas federn lassen – ist nun aber auch um viele Erfahrungen reicher.
Ein letztes gemeinsames Mittagessen. Ein letztes Mal den Anstieg zu unserer Fewo hochkurbeln. Duschen, aufräumen, Räder ins Auto verladen und wieder zum Messegelände. Die Siegerehrung hat bereits begonnen. Empfinde den Applaus auf der Bühne als sehr warmherzig und wertschätzend. Nicht nur des Radfahrens wegen, sondern wegen der ganzen Idee, mit dem wir vom Team „Gutes Leben. Für alle!“ unterwegs waren.
Ein letzes Mal viele Fotos. Ein letztes Mal viele Händedrücke, gute Wünsche und Verabschiedungen. Verabschiedungen von FahrerInnen und auch von Etlichen der extrem engagierten und immer freundlichen Mitarbeitenden aus dem Organisationsteam.
Ein letztes Mal auch ein Interview mit dem mir schon ans Herz gewachsenen Pressesprecher der Veranstaltung, Franceso Servadio, der zugleich als Reporter für „Alto Adige“ unterwegs ist. Wir unterhalten uns noch lange, letztlich sogar sehr philosophisch über die Frage, was ein gutes Leben ausmacht, was es dafür braucht und wie es mehr um sich greifen kann, gerade auch für diejenigen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen.
Unsere Mannschaft zerstreut sich in alle Winde. Heimfahrt mit Stephan. Obwohl oder gerade weil alles so gut gelaufen ist, durchaus auch mit einem Hauch von Melancholie. Es ist vorbei. Es wird nachwirken. Neues wird kommen. Was, das wird die Zukunft zeigen.
Alle Ergebnisse von heute und der Endstand im Gesamtklassement des Giro delle Dolomit 2015 gibt es auf www.girodolomiti.com bzw. bei www.mysdam.net
Welche Rennen ich im Rest der Saison noch fahre, ist noch nicht ganz klar, die Highlights 2015 sind Geschichte. Frühestens werde ich mich am 22.8. wieder an einer Startlinie aufstellen (Bergrennen nach Les Deux Alpes über 9km mit 630 Hm: www.sportcommunication.com – wir sind dort in der Nähe ohnehin im Urlaub).
Seid herzlich gegrüßt und habt eine gute Sommerzeit!,
Christoph