Liebe RadsportfreundInnen,
nach dem für mich so enttäuschenden Arlberg-Radmarathon trainierte ich normal weiter und merkte, dass meine Form nach wie vor gut ist (auf dem fast gleichen Level wie in den letzten Jahren). Nachdem auch die Wetterprognose noch sehr positiv war, beschloss ich, an meinem Start bei der Alpen-Challenge in Lenzerheide über 193,6 km mit 4.275 Hm festzuhalten – auch wenn ich in meinen radsportlichen Gedanken schon ganz auf das www.transcontinental.cc in 2017 eingestellt bin.
Mit dem Zug über Karlsruhe (von dort gemeinsam mit dem Mainzer Cosmas Lang) nach Konstanz. Im Hinterkopf beschäftigt mich noch eine fast schon dramatisch zu nennende Gegebenheit vom Vortag: eine Frau, die schon 9 Monate zuvor bei mir an der Bürotür (direkt am Speyerer Dom) geklingelt hatte und damals in der Hoffnung, dass „die Kirche“ ihr erlittenes Unrecht aufarbeitet, Aktenordner über ihre ganze Lebensgeschichte abgegeben hatte, kommt noch einmal zu mir. Ich habe eigentlich (wie leider viel zu oft) keine Zeit, denke aber an das Evangelium vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37). Die Frau ist sehr intelligent, hat wohl auch objektiv viel Unrecht erlitten, fühlt sich von vielem und auch von Vielen verfolgt und missverstanden. Kaum jemand hilft ihr. Kann man/frau ihr überhaupt helfen? Ich nehme mir stundenlang Zeit, höre ihr zu, rufe bei der Caritas und bei sonstigen städtischen Stellen an. Sie selbst ist vollkommen mittellos und hat nach eigener Auskunft höllische Schmerzen. Sie ist sich sicher, dass sie nur noch einige Tage zu leben hat und will nun alles noch regeln, so gut es geht. Letztlich bringe ich sie in ein Krankenhaus, begleite sie bei der Aufnahme (auf die sie schon sehr lange warten muss). Die ÄrztInnen, die wir antreffen, sind mit ihr auch stark überfordert. Spät am Abend fahre ich heim, in einer Mischung aus Traurigkeit und Wut. Am Morgen erfahre ich noch (sie ruft mich mit einem geliehenden Mobiltelefon an), dass sie nicht im Krankenhaus bleiben konnte und von der Polizei in eine psychatrische Klinik gebracht wurde.
All das beschäftigt mich noch sehr. Wie unendlich viel Leid gibt es auf dieser Welt?! Warum nur?
Wie egal ist es demgegenüber, dass wir in Radolfszell aus dem Zug müssen? Allerdings wieder aus einem dramatischen Grund: „Notarzteinsatz am Gleisbett“ (wohl nur ein anderes Wort für Suizid?)… Cosmas ruft Markus Spieth an, der uns in Konstanz aufsammeln wollte. Aufgrund von Stau ist er aber ohnehin erst an der Autobahnabfahrt Radolfszell und schon wenige min. später bei uns. Durch viele Staus und in großer Mittagshitze kommen wir nur quälend langsam voran. Am fortgeschrittenen Nachmittag kommen wir in Valbella in unserer Jugendherberge an. Auch der vierte Mitfahrer in unserem www.gutesleben-fueralle.de -Team, Gregor Loges, ist schon da. Wir alle Vier setzen uns noch ein bisschen aufs Rad und fahren die ersten und letzten km vom morgigen Marathon. Bei der anschließenden Pasta-Party treffe ich drei Männer aus der Pfalz, vom „Team Kalmit“ – also, von dem Berg, den ich in diesem Jahr schon 608x gefahren bin… – sie suchen sich jedes Jahr einen Alpenradmarathon aus und setzen sich diesen dann als (Jahres-)Ziel.
Heute mal früher im Bett, wir Vier in zwei Stockbetten.
Renntag
5 Uhr klingelt der Wecker. Zunächst unser mitgebrachtes Frühstück, dann noch ein zweites ab 5:45 Uhr im Speisesaal der Jugendherberge. Auschecken – und zum Start. Blauer Himmel, 8 Grad. Alles passt ideal, kann mich heute weit vorne aufstellen. Punkt 7 Uhr Start. Ein paar Meter geht es bergauf, ich kann mich in die erste Reihe vorarbeiten. Hier will ich nun bleiben. Geht auch recht gut, denn das Rennen wird in den ersten 15 km (weitgehend bergab) neutralisiert gefahren – ein Auto fährt voraus und darf nicht überholt werden. Wenn das doch beim Ötztaler von Sölden nach Ötz genauso entspannt wäre…
In Alvaneu-Bad (7:26 Uhr) wird das Rennen frei gegeben. Es geht nun auf gut 21km rund 1300 Hm bergauf. Unrythmisch. Noch immer kühl. Ändert sich auch auf dem ersten steilen Abschnitt zwischen Filisur und Bergün nicht. Plötzlich aber wird vorne Tempo gemacht. Ich muss mich enorm strecken, um noch einmal in die gut ein Dutzend starke Kopfgruppe hinein fahren zu können. Kurz vor Bergün habe ich es geschafft. Nun fährt die Gruppe wieder ganz langsam, die Verfolgergruppe kommt auch wieder heran. Kurz nach dem Ort weitere plötzliche Tempoverschärfungen. Ich beschließe, nun mein eigenes Tempo zu fahren. Die große Gruppe von knapp 30 Leuten fällt komplett in kleine Grüppchen auseinander. Ich finde mich ca. an Position 10 wieder. Fahre meinen Rythmus nun konsequent und arbeite mich entsprechend wieder nach vorne. Die Spitzengruppe verkleinert sich von 5 auf 3 Personen – sie bleibt mir noch lange in Sichtweite. Dahinter bildet sich bald eine zweite Gruppe von auch wieder 5 Fahrern. Hier bin ich nun mittendrin. Um 8:37 Uhr bin ich auf der Passhöhe. Bisher läuft es sehr gut. Auf der Abfahrt habe ich in den ersten Kehren den Eindruck, dass ich mit fahren könnte. Einer aus meiner Gruppe scheint mir sogar deutlich schwächer als ich selbst abzufahren, ein paar Mal fährt er mir unruhig vor mir her, schneidet meine Linie. Als ich ihn endlich überhole, sind mir die drei Anderen gerade weg gefahren. Mist! Im unteren Teil der Abfahrt plötzlich schlechterer Belag. Ich bin einen Moment unkonzentriert, da überholt mich der „schwache Abfahrer“ und lässt mich auch zurück. Unten in La Punt als Achter. Nun auf der breiten und verkehrsreichen Straße. Alleine. Gegen den Westwind. Sehe die kleine Gruppe der 4.-6.Plazierten nicht mehr lange, den Siebtplazierten aber schon noch. Aber ich will alleine auf diesem weitgehend flachen Terrain nicht überziehen, hoffe auf eine von hinten kommende Gruppe. Die aber nicht zu kommen scheint. Durch das mondäne St. Moritz. Schön gelegen am See. Weitere Seen. Mit der Bernina-Gruppe im Hintergrund. Kurz vor Silvaplana kommt endlich eine Gruppe von hinten. Daher lasse ich die Verpflegungsstelle in Silvaplana sausen. Hatte hier zwei Getränkeflaschen abgegeben. Würde ich mir diese nun holen, wäre aber auch diese Gruppe wieder weg. Keiner von meiner Gruppe hält hier an. Dann der Scheidepunkt: die Fahrer der Kurzstrecke biegen rechts ab, um sich auf den Anstieg zum Julierpass zu machen. Nur noch 5 Fahrer bleiben, um Richtung Maloja auf der Langstrecke weiter zu fahren. Die Gruppe läuft gut, wir holen auch jenen ein, von dem ich mich auf der Abfahrt noch hatte abhängen lassen. Wir erreichen den Malojapass (9:34 Uhr). Die Abfahrt von hier bis zur italienischen Grenze wird aus der Wertung genommen. Aufgrund mach enger Kurven und des auch schon ziemlich hohen Verkehrsaufkommens sehr sinnvoll. Ich will die Zeit nutzen, um zu essen und zu trinken. Die vier Anderen fahren schneller, ich lasse sie ziehen. Denn nach dem Ende der Abfahrt beginnt ohnehin gleich der Splügenpass. In den flachen Passagen des Maloja muss ich aber doch ziemlich in die Pedale treten. Kurz vor der italienischen Grenze holt mich eine recht große Gruppe von rund 15 Fahrern ein. Mit dieser fahre ich nun bis Chiavenna (10:13 Uhr). Von hier geht es nun auf gut 30km knapp 1800 Hm bergan. Wieder unrythmisch. Da ich auf dem letzten km der Abfahrt ohnehin das Tempo in meiner Gruppe gemacht habe, starte ich den Anstieg von vorne. Nach wenigen hundert Metern sehe ich, dass mir keiner mehr folgt. Bin überrascht, lasse mich aber nicht irritieren. Fahre alleine. Nun ist es wirklich warm: rund 25 Grad im Schatten. An vielen Stelle knallt uns nun aber die Sonne auf den Kopf. Der Schweiß rinnt. Aber mir macht es Spaß, bin in meinem Element. In den vielen Kehrenformationen schaue ich auch immer mal bergab, der Abstand zu den Nächstfolgenden wächst. Aber vor mir sehe ich auch niemanden.
Meine einzige Trinkflasche ist nun leer, freue mich auf die Getränkestation in Prestone. Die Frau an der Getränkeausgabe scheint erstaut, dass jemand aus dem Vorderfeld sich etwas an der Verpflegungsstelle zu trinken nimmt. Gibt – außer Wasser – nur süße Limonade. Egal. Sie erfrischt auch. Trinke schnell eine halbe Flasche leer und lasse sie mir noch einmal füllen. Ein Dreiviertelminutentankstopp. Die nach mir Folgenden haben mich dennoch nicht eingeholt. In Prestone scheint Pfarrfest zu sein. Scheinbar wird das hier noch groß gefeiert. Sehr viel Verkehr, fast Stau. Muss mehrfach abbremsen. Nach Prestone wird es ruhiger, auch wieder etwas kühler. Der längste steile Abschnitt folgt. Bald hole ich einen Fahrer ein, an den ich mich noch vom Albula erinnern kann. Er ist nun total platt. Bei mir rollt es recht gut. Genieße die raue Berglandschaft über der Baumgrenze. Überhole einen weiteren Fahrer. Kurz vor dem Stausee erkenne ich eine 4er-Gruppe. Sie ist noch gut eine Minute vor mir. Mehrere Begleitmotorräder umgeben sie. Das muss eine der vordersten Gruppen sein. Komme ich da noch ran? Leider verliere ich auf dem über 3 km langen Flachstück wieder Zeit auf die Gruppe. In Montespluga erinnere ich mich an eine Kaffeepause mit meinem Vater von vor 4 Jahren. In diesem Moment überholt mich ein Fahrer (Alessandro). Ich bin überrascht. Er ist aber einen Tick schneller. Beide kommen wir aber nicht mehr an die 5erGruppe ran. Den Splügenpass erreiche ich um 11:51 Uhr. Abfahrt. Viele Kehren. Plötzlich Baustelle. Ich erkenne die 4er-Gruppe, zu der Alessandro nun aufgeschlossen hat. Ich bin vielleicht noch 20 sec. hinten dran. Kann ich diese auf der Abfahrt noch aufholen? Meine Hoffnung wächst, denn ich komme bis auf eine Kehre (max. 15 sec.) heran. Das bleibt auch bis im Ort Splügen so. Diese Verpflegungsstelle muss ich nun natürlich auch ausfallen lassen. In Splügen kann ich erst den Weg nicht richtig erkennen. Auf lautes Rufen bekomme ich den Weg angezeigt. Es geht die kleine alte Straße hinunter. Verwinkelt. Manchmal auch mit kleinen Gegenanstiegen. Fast schon romatisch. Gerade im Bereich der Roflaschlucht/Via Mala. Ich verliere die 5er-Gruppe aus den Augen. Alleine habe ich auch keine Chance, zumal der Wind vom Tal hinauf bläst. Schade, mir geht eine Top-Plazierung verloren. Will aber anständig ins Ziel fahren. Zwei, drei Mal bin ich mir bei Kreuzungen von der Ferne nicht sicher, wie ich weiter fahren muss. Zweimal biege ich in die falsche Straße ein, merke dann aber sehr schnell, dass ich falsch bin. Bremse ab und drehe um. Bald hinter Thusis sehe ich allerding gar keine Streckenposten und auch keine Streckenschilder. Außerdem sollte es von hier doch wieder so langsam bergauf gehen. Und nicht Richtung Chur. Bin ich falsch? In Fürstenau frage ich zwei Frauen am Straßenrand. Sie können mir aber nicht weiter helfen. Zwischen Pratval und Rodels überholt mich ein junger Mopedfahrer. Ich rufe ihm laut zu, er fährt weiter. Als er in Rodels kurz anhält, kann ich ihn fragen – und es stellt sich heraus, dass ich falsch gefahren bin…! Ich ärgere mich sehr: ca. 10 km und ca. 16-17 min. (und zwei zusätzliche heftige Baustellenpassagen) extra. Das Rennen ist für mich gelaufen. Fahre dennoch weiter. Retour bis Sils. Via Tiefencastel hinauf nach Lantsch. Überhole nun viele Fahrer. Die Meisten sind jene von der Kurzstrecke. Zwei, drei überhole ich noch von der Langstrecke. Auf den letzten km verliere ich nun auch noch Luft aus dem Vorderreifen. Kann daher nicht mehr aus dem Sattel gehen. Fahre ins Ziel, nach 6:48 h. Bin 24. Und sehr enttäuscht. Wäre 7. geworden. Und jene Gruppe, die ich am Splügen fast eingeholt hatte, machte im Schlussanstieg die Plätze 2 – 6 unter sich aus… Das waren auch – weitgehend – die Leute, mit denen ich gemeinsam über den Malojapass gefahren bin
Von daher bin ich mit meiner Leistung ziemlich zufrieden, v.a. angesichts der Tatsache, dass ich rund 140km (!) in diesem Rennen solo gefahren bin…
Dennoch ärgere ich mich ziemlich. Cosmas beschwichtigt mich. Ebenso der in mir allermeist stark vorherrschende Gedanke, dass es ja so unendlich viel und auch viel Wichtigeres im Leben gibt, wie z.B. jene Frau, die ich am Freitag traf – und die nun vielleicht gerade im Sterben liegt.
Cosmas und ich verabschieden uns von Markus (der mir noch einen Schlauch für mein Vorderrad gibt, welchen Cosmas für mich tauscht) und Gregor, die beide gut ins Ziel gekommen sind. Cosmas und ich fahren via Thusis, Versam und Ilanz im Radtourenmodus entspannt bis Disentis, wo wir in einem etwas alternativen und einfachen Hostel übernachten.
Abreise über Umwege
Super geschlafen. Ein bisschen zu spät los (7:51 Uhr). Wieder tolles Wetter. Über Oberalppass, Sustenpass (in Meiringen geht Cosmas in den Zug), Große Scheidegg (erst von Meiringen, dann von Grindelwald – treffe Andreas Kublik, den Redakteur der „tour“, der gerade auf der Durchreise von einem Etappenrennen in Frankreich ist), Brünigpass (im Regen + Gewitter), Glaubenbühlpass (Mitarbeiter der „Unwetterbeobachtungsstelle“ halten es für vertretbar, dass ich weiter Richtung Nordwesten fahre, wenn ich möglicherweise aufkommende starke Gewitter immer im Blick behalte) komme ich abends kurz nach Einbruch der Dunkelheit bei Friedrich Dähler (und dessen Freundin) in Burgdorf an. Er war mir weit entgegen gekommen, aber ganz kurz bevor ich in Schlüpfheim eintraf, dann doch wieder umgekehrt). Ein erlebnisreicher Tag in der zentralen Schweizer Alpenwelt mit Tunneln, Gletschern, Brunnen, einsamen Bergstraßen, viel Autoverkehr, Sonne, Sommer, Gewitter. Nebenbei rund 6.600 Hm mit 245 km (letzte 65km fast nur flach bzw. bergab).