Höhenmeterweltrekordversuch – Erster Tag

Die Zuschauenden jubeln so laut, dass ich mich sehr bremsen muss, nicht zu schnell los zu fahren. Die ersten Runden fahren Klaus Freyburger und Johannes Beck mit mir. In der Mitte der Strecke stehen die 30 MinistrantInnen und PfadfinderInnen, die an dieser Stelle eine mögliche Zufahrt auf die Rührbergstraße absperren, und feuern mich und uns laut an. Am oberen Wendepunkt nach knapp 1,75 km mit den ersten 180,00 Höhenmetern und 9:23 min. steht dann das komplette Betreuungsteam sowie etliche weitere Menschen, die vom Rührberg bzw. aus Inzlingen und der Region Lörrach kommen. Wir wenden und sausen in eineinhalb Minuten ins Tal zum unteren Wendepunkt hinab. Wie toll ist es, dass die Straße komplett für den Verkehr gesperrt ist. So können wir es völlig unbedrängt auf dem guten Asphalt und der kurvenarmen Strecke hinunter rollen lassen und müssen erst in der letzten Kurve leicht beginnen abzubremsen, bevor wir dann vor dem unteren Wendepunkt richtig in die Eisen greifen müssen, damit wir die 180-Grad-Kurve mit einer Geschwindigkeit von maximal nur noch 10 Stundenkilometern nehmen können und uns dann – unter frenetischer Anfeuerung der noch über 300 Zuschauenden – wieder auf den Weg nach oben machen. Die ersten geschätzten 400 m steigen deutlich flacher, „nur“ rund 8%. Danach steigt die Straße bis zum oberen Wendepunkt spürbar stärker an, fast konstant 11 – 12 %.

Da meine erste Runde mit 10:53 min. deutlich unter meinem Zeitplan liegt, schalte ich schon auf der zweiten Runde auf meine kleinste Übersetzungsmöglichkeit (30 – 29). Trotzdem fahre ich die ersten 29 Runden in etwa im gleichen Tempo, immer zwischen 10:26 und 11:01. Ich fahre mit entsprechend hoher Trittfrequenz, in der Hoffnung, dass meine Beine nicht so schnell ermüden.

Die ersten Stunden läuft alles sehr rund. Bis zum Beginn der Dunkelheit gegen 22 Uhr habe ich bereits 11 Runden mit 1980 Höhenmetern absolviert. Die Stimmung ist nach wie vor sehr gut. Die meisten ZuschauerInnen sind immer noch an der Strecke. Bei jeder Durchfahrt werde ich stark angefeuert. Häufig winke ich ins Publikum.

Die Nacht beginnt, es ist bereits kühl (12 Grad). Ich habe schon um 21:26 Uhr ein Langarmshirt unter mein Trikot gezogen. Inzwischen fährt mein Vater im Auto mit einem orangenen Warnlicht und einer Lautsprecheranlage auf dem Dach mit rund 100 m Abstand vor mir jede Abfahrt hinunter. Wir müssen uns aufeinander einspielen. Bei den ersten Abfahrten mit Auto komme ich mir vor, als würde ich im Wind des Autos „verwirbelt“ werden. Ich traue mich aber nicht viel näher heran, falls mein Vater mal bremsen müsste. Denn zu meiner Überraschung habe ich schon auf den ersten Abfahrten Spitzengeschwindigkeiten von über 84 Stundenkilometern erreicht. Eine Vollbremsung würde also einen recht langen Bremsweg benötigen. Immerhin fühle ich mich hinter dem Auto viel sicherer, denn es sollte für mich ein sehr guter Schutz vor Wildschweinen und Rehen sein. Erst in der Nacht vor dem Rennen gab es genau auf diesem Abschnitt wieder Wildunfälle. Mein Vater stellt sich prima auf mein Tempo ein, so dass der Abstand zwischen uns immer gleich bleibt. Gut 100m vor dem unteren Wendepunkt schert er mit dem Auto nach links aus und ich sause an ihm vorbei. Bevor er wendet, passiere ich ihn von unten kommend schon wieder. Im untern Teil des Anstiegs fährt er dann mit lauter Musik – wegen technischer Probleme läuft über Stunden immer Frank Sinatras „Strangers in the night“ – wieder flott an mir vorbei, bis er am oberen Wendepunkt wieder auf mich wartet. Für alle Betreuenden inklusive der Presseleute ist das nächtliche Begleitauto in seiner Zweitfunktion als Taxi eine gute Gelegenheit, auch mal Impressionen direkt von der Strecke zu bekommen bzw. auch einmal in den Start- und Zielbereich des unteren Wendepunktes zu kommen, um in die dortige Atmosphäre einzutauchen oder auch an den einzelnen Programmpunkten teilzunehmen (abends gibt der Chor „Adonai“ noch ein Konzert) oder auch nur den Essens- und Infoständen einen Besuch abzustatten.

Ich selbst tue mir zu Beginn der Nacht mit den wenigen Unebenheiten der Straße auf der Abfahrt ein wenig schwer. Aber auch das spielt sich mit der Zeit ein, v.a. als ich damit beginne, kurz vor den Unebenheiten mich ein wenig aufzurichten und ich dadurch mehr Gewicht auf den Sattel bekomme.

Insgesamt bin ich sehr froh, dass die Abfahrt verhältnismäßig kurz ist. V.a. kühle ich so deutlich weniger als bei einer langen Abfahrt aus. Schön auch, dass auf dieser nur eindreiviertel km langen Strecke immer drei beleuchtete Abschnitte sind: an den beiden Wendepunkten und mittendrin bei den PfadfinderInnen. Kurz danach blicke ich immer fast automatisch auf den Gegenhang, auf eine kleine, noch erleuchtete Siedlung, bereits in der Schweiz.

Der fast volle Mond erleuchtet zumindest Teile der Strecke so gut, dass ich beim Auffahren mein Licht immer ausschalten kann. Nur auf den Abfahrten mache ich meine Lampe an – hauptsächlich aber für meinen Vater Dankmar Fuhrbach sowie seinen Beifahrer Wolfgang Deobald zur Orientierung, wie groß ihr Abstand zu mir ist.

Zwischendrin fährt mein Freund Christian Englert ein paar Runden mit mir. Er ist ganz euphorisch von der Atmosphäre hier. Er erzählt mir auch von einigen Leuten aus unserem Betreuungsteam, dass sie tief beeindruckt sind. Besonders stark bewegt mich seine Aussage, dass auch meine Frau Monika Kreiner glücklich über den bisherigen Verlauf der Veranstaltung sei. Zudem habe sie in der stillen, aber so intensiven Minute vor dem Start gespürt, dass diese Art von Sport ein wichtiger Teil meines Lebens sei. Welch emotional phantastische Anfangsstunden des Rekordversuchs!

Christian ist eine der ganz besonders wichtigen Personen auf der Veranstaltung: mal begleitet er mich auf dem Rad, mal ist er als sympathischer Spendensammler für das Misereor-Projekt in Peru unterwegs, mal gibt er unten auf der Bühne den Zuschauenden Informationen aus erster Hand. Dazwischen spricht er mit Leuten aus dem Ort. Christian ist nur ein Beispiel für das gesamte Betreuungsteam: alle gehen auf die Zuschauenden zu und schaffen es, Brücken zwischen dem aus der Ferne angereisten Team und den Menschen vor Ort zu schlagen. Nicht umsonst bekommt das Team Essens- und Getränkespenden und kann sich bei jedem Problem an irgend jemanden aus den Zuschauerreihen wenden. Umgekehrt trauen sich die Menschen auch auf das Betreungsteam, das mit einheitlichen Poloshirts gekleidet ist, zuzugehen und viele Fragen zu stellen bzw. Dinge zu erzählen.

Was mir als Radfahrer ansonsten noch stark auffällt ist, dass Zuschauende sich von mir irgendwann in der Nacht mit „bis später“ verabschieden oder dass parallel dazu Andere schon wieder kommen und mir auf meinen erstaunten Zuruf „schon wieder da?!“ erwidern: „klar, die Nacht ist doch das Härteste, da haben wir uns den Wecker gestellt!“. Wieder Andere harren mit Thermoskanne, Schlafsack und Isomatte komplett an der Strecke aus. Und jede Runde feuern sie mich unablässig wieder an. Unglaublich. Bewegend. Die Gemeinschaft, die ich mir kurz vor dem Start so verwegen gewünscht habe, sie ist deutlich spür- und greifbar. Es liegt ein sehr guter Geist über der Veranstaltung. Dass dies alles so gut, besser als ich es mir je hätte ausmalen können, läuft, berührt mich ebenso wie einige ganz spezielle Dinge. Vor Glück kommen mir besonders auf der Abfahrt – wenn ich ein wenig entspanne – Tränen des Glücks.

Auch das Betreungsteam am oberen Wendepunkt hält fantastisch aus. Mir scheint, als wären auch jetzt mitten in der Nacht noch deutlich mehr Leute aktiv als eigentlich Dienst haben. Die Stimmung unter diesem bunt zusammen gewürfelten Haufen scheint nach wie vor sehr positiv. Alle stellen sich komplett in den Dienst der Sache und sind voll dabei. Und es scheint ihnen selbst Spaß zu machen, ja auch sie scheinen von ihrer Aufgabe erfüllt!